Mit viel Geld und einem klaren Plan ist China zur Weltmacht der Künstlichen Intelligenz aufgestiegen. Wie das gelingen konnte und was das für uns Europäer bedeutet, beschreibt KI-Experte Fabian Westerheide in seinem neuen Buch
Am 4. Oktober 1957 startete der russische Satellit „Sputnik 1“ seine Reise in die Erdumlaufbahn und markierte damit den Beginn des Weltraumzeitalters. Die Sowjetunion bewies damit der ganzen Welt, dass sie in der Lage war, Raumfahrttechnologie erfolgreich einzusetzen. Dadurch bekam nicht nur das Wettrüsten im Kalten Krieg mit den USA eine neue Dimension, sondern auch der Wettlauf um den ersten Menschen auf dem Mond. Denn die Vereinigten Staaten waren schockiert über den technologischen Vorsprung der Sowjetunion und gründeten 1958 als Reaktion auf den Sputnik-Start die National Aeronautics and Space Administration (NASA). Die NASA erhielt den Auftrag, so schnell wie möglich Menschen auf den Mond zu schicken und den Wettlauf um die Eroberung des Weltraums zu gewinnen.
Was 1957 der Satellit Sputnik in den USA auslöste, markierte 2016 AlphaGos Sieg gegen den weltbesten Spieler des asiatischen Strategiespiels „Go“. 280 Millionen Chinesen und ihre totalitäre Regierung erlebten live, wie eine amerikanische KI gegen einen Menschen in einem Spiel gewann, das die meisten Menschen in den USA noch nicht einmal kannten. Dieser Schlüsselmoment war wie ein Weckruf für die chinesische Regierung – ein chinesischer Sputnik-Schock.
Dieser Weckruf war nicht nur für China wichtig, sondern auch für den Rest der Welt, denn die Innovationskraft und der Punkt, an dem wir in Bezug auf KI heute stehen, verdanken wir zu einem großen Teil der Energie, dem Kapital und den Ressourcen des chinesischen Volkes. Die Volksrepublik China begriff 2016: „Wir müssen dieses Thema ernstnehmen.“ In ihrem Drei-Jahres-Strategie-Paper hielt die chinesische Regierung 2017 deshalb fest: „Wir wollen Künstliche Intelligenz beherrschen, dominieren und innerhalb Chinas unabhängig von ausländischer Technologie sein. Wir wollen in der Lage sein, die Welt zu beherrschen.“ Sicher, manchmal ist es etwas blumig formuliert. Doch die chinesische Regierung bringt in dem Strategieplan klar ihre globalen Ambitionen zum Ausdruck. Sie möchte diese Technologie so beherrschen, dass China damit Weltmacht Nummer eins wird – und sie ist auf dem besten Weg dorthin.
Blackbox China
Doch das Strategiepapier gewährt uns nur einen winzigen Blick in die nationale Strategie des Landes. Was die chinesische Regierung wirklich verfolgt, gleicht für Außenstehende eher einer Blackbox. Auch auf meinen Chinareisen erhielt ich nur einen flüchtigen Eindruck von dem, was hinter der großen chinesischen Firewall wirklich geplant und umgesetzt wird. Doch was ich gehört, gesehen und besprochen habe, reicht aus, um in diesem Kapitel eine deutliche Warnung vor der chinesischen Ambition und Technologie auszusprechen.
Im September 2018 war ich das erste Mal im Reich der Mitte und seitdem mehrmals zu Gast in China. Ich habe dort (und überall auf der Welt) wunderbare Chinesen und Chinesinnen kennengelernt und die unglaubliche Gastfreundschaft und faszinierende chinesische Kultur sehr genossen. Gleichzeitig war ich mir vom ersten Tag der Macht und Kontrolle des Regimes bewusst.
Bei meinem ersten Besuch betrat ich, nach ein paar Tagen in Hongkong und Macau, zu Fuß die asiatische KI-Großmacht. Bei der Passkontrolle entdeckten die chinesischen Grenzer einen Stempel aus meiner letzten Reise in die Türkei. Ich wurde abgeführt und musste mich zahlreichen Fragen stellen. Sieben Gespräche später entschied dann jemand mit genügend Autorität, dass ich einreisen durfte. Natürlich wurden vorher meine Fingerabdrücke genommen und Fotos gemacht. Ab diesem Zeitpunkt war ich offiziell im Überwachungssystem registriert.
Ich war auf zahlreichen Konferenzen, in großen und kleinen Hubs, habe Millionenstädte gesehen, von denen ich vorher noch nie etwas gehört hatte. Es ist unfassbar, was die Volksrepublik innerhalb weniger Jahre aus dem Boden gestampft hat. In Metropolen wie Guangdong, Hangzhou und Xiamen wachsen gigantische und moderne Hochhäuser innerhalb von Monaten wie Pilze aus dem Boden.
Aber selbst in den ärmeren Gegenden fühlte ich mich zu jeder Zeit sicherer als in vergleichbaren Städten in den USA oder selbst in Berlin. Keiner zog mich über den Tisch. Taxifahrer gaben mir unaufgefordert eine Quittung und ich konnte jederzeit bedenkenlos durch die Straßen laufen.
Doch diese Sicherheit hat ihren Preis. Überall überwachten Kameras jeden Winkel und jeden Schritt, den ich ging. Skynet, das Überwachungssystem, dessen Name mich an die KIs in den „Terminator“-Filmen erinnert, begleitet mit Millionen und Abermillionen Kameras seit 2005 alles, was Chinas Bürger tun. Vor ein paar Jahren wurde es durch Sharp Eyes optimiert – KI-Kameras mit Gesichtserkennung und einem perfiden Algo rithmus, der alles direkt in den Social Credit Score überträgt. Ganz so, als hätte die Kommunistische Partei Chinas aus George Orwells „1984“ abgeschrieben:
„Auf jedem Treppenabsatz, gegenüber dem Aufzugschacht, starrte das riesige Gesicht auf einem Plakat von der Wand. Es war eines dieser Bilder, auf denen die Augen der dargestellten Person dem Betrachter mit jeder Bewegung zu folgen scheinen. BIG BROTHER IS WATCHING YOU, lautete der Schriftzug darunter.“
Auf meinen Reisen waren es Kameras und keine Plakate, doch Xi Jinpings Augen verfolgten mich trotzdem an jeder Ecke. Durch den smarten Gesichtserkennungsalgorithmus wusste das System auf Knopfdruck jederzeit, wer ich war, was ich tat und wohin ich mich bewegte.
Psychologisch war ich nach kurzer Zeit interessanterweise nicht mehr groß beeindruckt. Viel schwerer fiel es mir hingegen, die große Firewall zu ignorieren, die es mir unmöglich machte, meine E-Mails (Gmail), Browser (Chrome), Facebook, WhatsApp und LinkedIn ohne einen VPNzu nutzen.
Ständig online
Doch die meisten Menschen in China scheint das nicht zu stören. Sie sind trotzdem ständig online und schon seit einigen Jahren digitaler unterwegs als wir im Jahr 2024. Bereits 2018 konnte man im Taxi fast nur mit Alipay bezahlen (nur ich nicht, denn ich hatte kein chinesisches Konto und fühlte mich dadurch wie ein Bürger zweiter Klasse). Aber nicht nur die Bezahlung läuft digital, sondern auch das Schul- und Bildungssystem und die gesamte administrative Verwaltung. Aus meinen Gesprächen mit Chinesinnen und Wahleuropäern, die in China gelebt haben, weiß ich, dass digitale Services dort schon seit Jahren viel besser als bei uns funktionieren. Die Akzeptanz digitaler Produkte und KI ist in China einfach viel höher als in jedem anderen Land der Welt.
Was wirklich innerhalb der Grenzen dieses Landes passiert, ist von außen schwer zu sagen. Im Gegensatz zu den europäischen und amerikanischen Systemen, die sehr offen und transparent sind, erscheint uns das chinesische System fremd und sehr verschlossen. Das liegt natürlich erst einmal an der Sprache. In Europa arbeiten und entwickeln wir in Englisch. In China beherrschen Mandarin und Kantonesisch den Markt. Wer kann schon von sich behaupten, eine chinesische Sprache zu sprechen? Doch nicht nur sprachlich grenzt sich das Land ab, sondern auch kulturell. Seit Jahrtausenden ist das Land vor allem auf sich konzentriert und entwickelte eine Hochkultur, die sich als den Mittelpunkt der Welt betrachtete und lange Zeit unabhängig von der Außenwelt agierte. Natürlich war China nie ganz von der Außenwelt abgeschnitten und trieb Handel mit der Welt – wie die alte und neue Seidenstraße zeigen. Doch dabei ging es nie darum, sich der Welt zu öffnen, damit diese China versteht. Stets standen nationale Interessen im Vordergrund.
Zudem fällt es uns in Europa – und besonders in Deutschland – schwer, das Regierungssystem Chinas zu verstehen. Mit unserem demokratischen Wertesystem, unserer Geschichte und unserem starken Freiheitsdrang können wir uns nur schwer in das autokratische Einparteiensystem der Volksrepublik hineinversetzen und erhalten auch keinen Zugang dazu. Denn China legt großen Wert auf Autarkie. Auch deswegen existiert dort ein politisch, wirtschaftlich und kulturell gewolltes, geschlossenes Ökosystem mit einem großen virtuellen Schutzraum um das Land herum beziehungsweise einer Firewall, die in Echtzeit bestimmt, welche Daten rein- und rausgehen. Kein Land der Welt hat dies so radikal umgesetzt wie China.
Das chinesische Ökosystem können wir uns ein bisschen wie eine Pyramide vorstellen:
- An deren Spitze und über allem thronen Xi Jiping und die CCP (Chinese Communist Party). Sie gibt (national wie regional) die KI-Strategie vor und entscheidet, was im Land passiert, wer und was gefördert wird. Sie stellt Mittel bereit oder treibt Investoren auf, die Gelder zur Verfügung stellen.
- Ihr untergeordnet, aber mit entscheidenden Kompetenzen ausgestattet, steht die Verwaltung. Sie tritt als Kundin auf (im Vergleich zum Beispiel zu europäischen Verwaltungen) und ist gleichzeitig einer der wichtigsten Geldgeber junger KI-Unternehmen.
- Im Zentrum der Pyramide steht die etablierte Industrie. Sie erhält seit 2016 klare politische Anweisungen, KI als Kernthema zu behandeln. Entsprechend gut läuft der Austausch von Daten und Wissen, da das Regime ein großes politisches Interesse daran hat und die Einhaltung dieser Vorgaben überwacht und kontrolliert.
- Ebenfalls wichtig ist die Wissenschaft. Das Regime investiert Milliarden in Forschung und Innovation.
- An Kapitalfür KI mangelt es in China nicht. Es gibt genug Geld für Wachstum und Fortschritt. Längst bietet die Volksrepublik ausreichend Kapital von staatlicher und privater Seite für die Gründung, Skalierung und das Wachstum chinesischer KI-Startups. Gleichzeitig ist der Kapitalmarkt eingeschränkt und es ist für ausländische Investoren schwieriger, sich in China zu beteiligen.
- Insgesamt ist der inländische chinesische Wettbewerbsehr hart. Die Unternehmen, die in China groß werden, sind später auch Giganten, die auf dem internationalen Parkett mitmischen (zum Beispiel Baidu, Alibaba, Huawei und Tencent). China schafft es sehr gut, sein Ökosystem nach außen zu schützen und gleichzeitig alles Notwendige bereitzustellen (Kapital, Talente, Kunden, Daten), um die jungen Unternehmen inländisch reifen zu lassen.
Bevor ich noch tiefer auf die Auswirkungen der technischen Entwicklungen in der Volksrepublik eingehe, möchte ich das chinesische Ökosystem noch ein bisschen genauer betrachten:
CCP: KI Made in China
Sie haben bestimmt schon von der neuen Seidenstraße („One Belt, One Road“-Projekt) gehört. Ein chinesisches Handels- und Infrastrukturprojekt, welches die chinesische Regierung 2013 lancierte. 2015 wurde es durch das große Programm „Made in China 2025“ ergänzt. Der Plan sieht vor, in China Schlüsseltechnologien zu produzieren, sie in die Welt zu exportieren und gleichzeitig Ressourcen und Rohstoffe von überall auf der Welt nach China zu importieren.
Ähnliches plante die Volksrepublik bereits vor Jahren auch schon in Bezug auf KI: Die sogenannte „digitale Seidenstraße“ ist Teil des Masterplans und wird jährlich mit gigantischen Summen und personellen Ressourcen gefördert. Die Volksrepublik China hat die ehrgeizigste KI-Strategie aller Nationen und stellt weltweit die meisten Ressourcen, Datenmengen, Talente, Unternehmen, Forschungen und Kapital zum Aufbau des KI-Ökosystems bereit. KI soll die gesamte chinesische Industrie vernetzen und komplett upgraden. Künstliche Intelligenz soll Waren produzieren, deren Ströme lenken und Angebot sowie Nachfrage austarieren und militärische wie digitale Interessen wahren. Die chinesische Regierung verfolgt eine zentral gesteuerte Strategie mit hyperlokaler Umsetzung. Von oben werden Werte und Ziele vorgegeben sowie Ressourcen zur Verfügung gestellt.
Verwaltung: Zuckerbrot und Peitsche
Auf lokaler Ebene der Kommunen, Städte und Provinzen stehen regionale Verwaltungen im Wettbewerb um die neuen KI-Cluster. KI ist in China ein Karriereförderinstrument: Wer KI politisch umsetzt, wird befördert. Das bedeutet: Von ganz oben bis runter zur kleinsten regionalen Instanz, vom Mitglied im Zentralkomitee bis zur Bürgermeisterin eines Dorfes möchte sich jeder politisch beweisen und KI-Unternehmen anziehen, aufbauen und dafür sorgen, dass sie erfolgreich werden. Überall werden Startups gefördert und Konferenzen veranstaltet.
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Gleichzeitig baut Xi Jinping sein von KI getriebenes Antikorruptionsprogramm „Tiger & Fliegen“ massiv aus, um Beamte, die sich auf Kosten des Systems bereichern wollen, auszuhebeln.
Forschung: Quantität vor Qualität
China ist die Nummer eins in der KI-Forschung – zumindest quantitativ. Die Regierung pumpt seit 2016 sehr viel Geld in ihre Hochschulen, richtete hunderte KI-Professuren ein und stampfte hunderttausende Studienplätze aus dem Boden. 2020 gab es bereits 440 chinesische Universitäten, an denen man KI im Hauptfach studieren konnte.
Ich habe gehört, dass bis zu 100.000 EUR für chinesische Forscher und Forscherinnen ausgeschrieben wurden, die es schaffen, in einem weltweit angesehenen wissenschaftlichen Magazin zu veröffentlichen. Kein Wunder, dass die meisten Forschungspapiere über KI weltweit von chinesischen Universitäten stammen – Universitäten, die ich bis dahin teilweise gar nicht kannte. 2017 lag die Zahl der Veröffentlichungen zu KI bereits bei 37.343 Papers. Allerdings nicht in der Qualität, die wir uns wünschen würden.
Qualitativ haben chinesische Universitäten jedoch auch einiges zu bieten. Laut dem KI-Jahresbericht 2023 der Stanford University sind die ersten neun Plätze der zehn besten KI-Forschungseinrichtungen durch chinesische Universitäten belegt. Erst auf Platz zehn folgt das MIT.
Doch die relevanten Forschungsergebnisse bleiben in China. Die Regierung hat schlicht und ergreifend kein Interesse daran, die Welt zu verbessern und ihre Forschung allen zur Verfügung zu stellen. Was in den USA erfunden wird, können wir alle benutzen. China sieht das anders – egoistischer. Das könnte in der Zukunft zu Konflikten führen.
Industrie: Die chinesischen KI-Konzerne
Der chinesische Staatskapitalismus zwingt die Konzerne in China, sich mit der Regierung gut zu stellen und deren Strategie umzusetzen. Die chinesischen Unternehmen investieren bereitwillig in KI, weil sie wissen, dass sie dafür politisches Lob bekommen – und Bestrafung fürchten.
Doch wer sind die starken, federführenden Unternehmen in China? Baidu, Alibaba und Tencent habe ich bereits genannt. Doch auch Huaweigehört dazu. Diese Unternehmen haben einen digitalen Kosmos errichtet. WeChatist ein Beispiel dafür. Mit mehr als einer Milliarde Nutzern gehört der Messenger-Dienst von Tencent zu den erfolgreichsten weltweit und führte schon vor Jahren eine Bezahlfunktion ein. Jeder, der mal in China unterwegs war, weiß, dass das Land sehr erfolgreich seine eigene Digitaladoption erschaffen hat, die den europäischen und amerikanischen voraus ist.
Auch in China gibt es eigene Cloud-Provider, die sogenannten Hyperscaler: Baidu, Alibaba und Huawei. Der Unterschied zu den amerikanischen Hyperscalern besteht darin, dass die Infrastruktur nicht nur auf chinesischem Boden steht, sondern auch bevorzugt chinesischen Konzernen zur Verfügung gestellt wird. Chinesische Startups bauen also auf chinesischer Cloud-Infrastruktur auf. Natürlich versuchen Konzerne wie Alibaba und Huawei auch in Europa Fuß zu fassen – bisher mit mäßigem Erfolg.
Big Brother reguliert
Von den Schattenseiten des Staatskapitalismus für chinesische Unternehmen bekommen wir im Ausland in der Regel wenig mit. Wir wissen aber, dass der chinesische Markt für längere Zeit unreguliert geblieben ist. Während der Corona-Pandemie kam es allerdings zu einem Umdenken und wir konnten aus der Ferne beobachten, dass in Großkonzernen wie Alibaba die Führungsspitzen ausgetauscht wurden. Auch andere Unternehmen der KI- Branche wurden von der Regierung reguliert, denn die Konzerne waren ihr zu mächtig geworden. Die chinesische Regierung mischt also nicht nur in der Ausrichtung der Unternehmen mit, sondern auch auf personeller Ebene. Es wurden sogar Gesetze geschaffen, die dazu dienen, das Machtgefüge in Balance zu halten.
Das chinesische Zentralkomitee demonstrierte damit einmal mehr, dass sie die klare Nummer eins sind und sich auch erfolgreiche Technologiefirmen der Regierung unterzuordnen haben. Ein Machtspiel mit einem eindeutigen Gewinner. Zur gleichen Zeit verabschiedete die Regierung auch eine ganze Reihe weiterer Gesetze – zum Datenschutz, für Privatsphäre und so weiter. Aber auch das müssen wir im Kontext des chinesischen Kosmos betrachten: Es ging dabei nicht darum, die Bevölkerung zu schützen, sondern vielmehr das Ausland daran zu hindern, in diesen Kosmos einzudringen.
Kapital und Wettbewerb: Das Geld fließt
Ich habe bereits angedeutet, dass China seit 2016 extrem hohe Summen in die eigene KI-Strategie investiert. Um eine Zahl zu nennen: Wir sprechen von circa 170 Mrd. Euro, die zugesichert wurden. Zugesichert – nicht ausgegeben. Bisher wurde also nicht die ganze Summe verwendet, aber vieles davon floss bereits in den Bau der nötigen Infrastruktur. Ich habe selbst mitbeko men, wie schnell und einfach junge chinesische KI-Unternehmen 10 Mio. Euro an Investmentgeldern erhalten. Das sind Zahlen, von denen KI-Unternehmen in Europa nur träumen können.
Leider kann ich nicht genau sagen, woher das Geld kommt. Doch aus meinen Gesprächen innerhalb der Branche leite ich ab, dass ein großer Anteil aus privaten Quellen stammt. Also von Unternehmen, die im Sinne des Staates investieren wollen und deshalb zum Beispiel indirekt staatliches Geld ausgeben, das sie sich eventuell vorher geliehen haben. Regional fließt ebenfalls viel Geld: Peking investierte bereits 2021 beispielsweise 2 Mrd. Euro in einen KI-Innovationspark.
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Die Stadt Schanghai investierte 10 Mrd. Euro in ein Foundation-KI-Investment, für das extra eine ganze Insel ausgehoben und bebaut wird. Das sind Größenordnungen, bei denen wir in Europa einfach nicht mithalten können. Wir halten fest: An Geld fehlt es in China nicht!
Und einiges davon fließt in Startups. In dieser Hinsicht steht China auf Platz zwei – gleich hinter den USA. Ich habe zwar keine verlässlichen Zahlen, aber meinen Gesprächen entnehme ich, dass unfassbar viel Geld mit dem Gießkannenprinzip in Startups investiert wird, um zu schauen, was tatsächlich wächst und was wieder eingestampft wird – die Ausfallquote dürfte hoch sein.
Nicht jeder KI-Innovationspark führt also zum Erfolg, nicht jedes Cluster ist sinnvoll investiert, aber die Masse macht den Unterschied. Auf meinen Reisen habe ich Büroräume und Innovationsparks vom Feinsten gesehen, in denen aber manchmal fast keine Menschen arbeiteten. Trotzdem baut die chinesische Regierung massiv physische Infrastruktur auf, um bewusst Talente anzuziehen und Investitionsanreize zu bieten. Wer als Europäer oder Amerikaner zum Arbeiten nach China ging, war von der Einkommensteuer befreit und bekam viel Unterstützung. Bis zum Beginn der Corona-Pandemie wurde einem der rote Teppich ausgelegt. Alles, damit der Sprung nach vorne gelingt. Seit 2020 ist es nicht mehr ganz so leicht und viele Expats spüren, dass sich China wieder stärker isoliert.
Und das ist es unter anderem, was China so erfolgreich macht: Ernsthaftigkeit, Durchhaltevermögen, Disziplin und eine unerschütterliche Motivation. Seit 2016 setzen die Chinesen ununterbrochen exakt das um, was sie sich vorgenommen haben. Während in Europa viel versprochen und wenig eingehalten wird. Die CCP hat angekündigt, dass sie die KI-Branche beherrschen will und setzt dieses Ziel mit einer unglaublichen Effizienz und Brutalität um. Das Resultat ist ein nationaler und regionaler Verwaltungsstaat, der eng mit Forschung, Kapitalgebern und Industrie zusammenarbeitet, um das erfolgreichste KI-Ökosystem der Welt aufzubauen.
Ich kann mir vorstellen, dass China zudem versuchen wird, auf den europäischen, asiatischen und afrikanischen Markt zu expandieren.
Was China aber trotz allem fehlt, sind Vielfalt, Kreativität und Partner. Daher haben gleich mehrere Agenturen den staatlichen Auftrag erhalten, Talente aus Europa anzuwerben und mit europäischen Partnern Beziehungen aufzubauen. Deshalb gibt es trotz vieler Differenzen und Rivalitäten weiterhin viele Kooperationen zwischen den USA und China. Auf der einen Seite investierten große US-Investoren in der Vergangenheit viel Geld in chinesische KI-Unternehmen. Laut dem Zentrum für Sicherheitsstudien der Universität Georgetown etwa 40 Mrd. Dollar. Darunter auch einige chinesische Unternehmen, die mittlerweile auf der schwarzen Liste der USA stehen. So investierten die Silicon Valley Bank und die Wanxiang American Healthcare Investment Group beispielsweise in chinesische KI-Unternehmen, die an der Entwicklung der Gesichtserkennungstechnologie arbeiteten.
Gleichzeitig verschärft die US-Regierung unter Joe Biden ihre Maßnahmen gegen chinesische Unternehmen und erschwert China den Zugang zu US-Technologien, da sie die Gefahr erkannt haben. Auf der anderen Seite verbietet die CCP iPhones in ihren Behörden und in staatsnahen Unternehmen. Ich sehe es als eine Art Hassliebe zwischen den beiden Nationen. Kurzfristig wirft der amerikanische Exportbann China vielleicht um ein paar Monate zurück, aber mit ihrem Ehrgeiz werden sie mittelfristig dadurch vermutlich eine eigene starke Halbleiterindustrie aufbauen und am Ende vielleicht sogar den Markt dominieren.
An anderen Stellen steht sich die KI-Supermacht manchmal selbst im Weg. Generative KI ist gerade weltweit das ganz große Thema. Und interessanterweise hat China es nur mit Verspätung geschafft, ein äquivalent gutes Sprachmodell zu entwickeln. Was ChatGPT auf Englisch kann, ist auch für Chinesen und Chinesinnen, die Englisch sprechen, ein geniales Werkzeug. Auf dem chinesischen Markt gab es lange nichts Vergleichbares. Das liegt nicht daran, dass es nicht möglich ist, sondern vor allem daran, dass es nicht gewollt ist. Man möchte keine generative KI, die unvorhersagbare Ergebnisse produziert. In China sollen alle im Sinne der politischen Führung denken und agieren – auch die Maschinen.
Zensur in Echtzeit
Doch nicht nur in China, auch im Ausland zensiert das Regime generative Modelle. Nachdem die CCP massiv Druck ausgeübt hatte, sperrte Midjourney im April 2023 bereits die Nutzung des Namens „jinping“. Zensiert wurden aber nicht nur sein Name, sondern auch Bilder, die mit dem chinesischen Machthaber Xi Jinping in Zusammenhang gebracht werden, wie etwa eine karikierte Version des Kinderbuch-Bären „Winnie the Pooh“.
Zensiert wird in China alles, was nicht in die Strategie oder das Selbstbild der CCP passt.
Jeder, der mit WeChat oder anderen Messenger-Diensten in China Nachrichten verschickt, kennt das: Die chinesische Regierung liest und zensiert in Echtzeit mit. Es gibt bestimmte Schlüsselworte, die man gar nicht tippen kann, oder die – während ich tippe – in Alternativen umgewandelt werden. Das heißt, der Empfänger kriegt eine andere Nachricht als die, die ich abgeschickt habe. Manchmal bemerke ich das als Nutzer noch nicht einmal. Das System überwacht so ausgeklügelt jeden Handel an Daten und jede Konversation – sogar ohne menschliche Aufsicht. Die KI liest auch aus, bis zu welchem Grad ein kritischer Beitrag in den sozialen Medien tolerierbar ist und ab wann er als eine Bedrohung für das System gewertet und gelöscht wird.
Das trojanische Pferd
Die CCP baut ihr KI-Ökosystem clever, weitsichtig, strategisch und mit unfassbar viel Geld, Ressourcen und Talenten auf. Auf der anderen Seite zeigt uns das Regime aber auch, wie man es auf perverse Art benutzen kann. Sie überwachen nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern versuchen die ganze Welt politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich zu manipulieren und zu kontrollieren. Zwar dämmert es einigen Nationen, dass die chinesische Regierung mit der Neuen Seidenstraße bereits seit mindestens einem Jahrzehnt ein globales Netz von Abhängigkeiten schafft, doch ist den meisten noch nicht bewusst, dass KI dies massiv verstärken kann. KI gibt der CCP totalitäre Macht. Sie ermöglicht es der Partei, mit immer weniger Menschen die Macht und Kontrolle über die zweitgrößte Wirtschaft der Welt und ihre Bevölkerung zu bewahren. Wenn das Regime dieselbe Effizienz, die es im Bereich der Überwachungstechnologie bereits an den Tag gelegt hat, auf die Industrie ausweitet, wird China die erste komplett vernetzte autonome Industrie aufbauen. Unsere größte Befürchtung hierzulande (Roboter ersetzen unsere Arbeit), ist dort bereits Alltag: Roboter ersetzen millionenfach Arbeiter und Arbeiterinnen.
Inzwischen expandiert die CCP ihre Hardware mithilfe der „digitalen Seidenstraße“ in die ganze Welt. Huawei-Smartphones bieten ausgezeichnete Kameras und andere Funktionen und sind im Vergleich zum iPhone viel günstiger. Alibaba ermöglicht deutschen Mittelständlern die Nutzung seiner Cloud „kostenlos“. Im Gegenzug dafür erhält Alibaba – und damit die chinesische Regierung – die Unternehmensdaten auf dem Silbertablett.
Unternehmen in Deutschland sind bei der Nutzung Künstlicher Intelligenz noch zurückhaltend. Generative Sprachmodelle wie ChatGPT gehören bei vielen Beschäftigten aber bereits zum Arbeitsalltag
Wer „Geschenke“ aus China annimmt, holt sich möglicherweise ein trojanisches Pferd ins Haus. Denn die Hardware hat mit hoher Wahrscheinlichkeit Backdoors, die so raffiniert auf der Platine verbaut sind, dass man sie nicht findet. Manchmal öffnet sie einfach nur einen Port, der an jeder Firewall vorbeikommt. Die kommunistische Partei nutzt KI als strategisches Werkzeug für die eigenen nationalen und globalen Interessen und kauft sich damit weltweit in die Infrastruktur anderer Länder ein: Erst kommen die Straßen und Häfen, dann die Fabriken. Doch anstatt diese Strategie offiziell zu teilen, agiert die CCP still und leise – und dadurch noch viel gefährlicher.
Wir können davon ausgehen, dass China KI auch für seine Auslandsdienste einsetzt. Für seine politischen sowie wirtschaftlichen Spionage-Aktivitäten. Chinesische Unternehmen wie Huawei, Hikvision, Dahua und ZTE beliefern aktuell schon 63 Nationen weltweit mit KI-Überwachungstechnik (von diesen Ländern haben 36 das „One Belt, one Road“-Abkommen mit China unterzeichnet). Eine intelligente und strategische Meisterleistung Chinas. Um das Trojanische Pferd noch besser in die nationalen Hinterzimmer zu lotsen, bietet die CCP auch gleich die passenden zinsgünstigen Kredite an und macht den Regierungen die Überwachungstechnik schmackhaft. Dadurch ermöglichen sie es anderen autokratischen Systemen, ihre jeweilige Bevölkerung zu bespitzeln, und weiten ihren Einfluss weltweit massiv durch die Hintertür aus. Jeder, der sich an der digitalen Seidenstraße beteiligt, integriert chinesische KI in seine Systeme. Wir können davon ausgehen, dass nicht nur jede Kommunikation in China, sondern auch mit und über China überwacht wird. Ich bin mir sicher, dass soziale Medien wie Facebook und X gescannt werden und Spionagetechnik in jeder chinesischen Hardware integriert ist.
Wir Europäer müssen uns deshalb nicht nur die Frage stellen, ob wir uns dadurch einschüchtern lassen, sondern auch, ob wir das wollen. Wollen wir chinesische KI in unseren Systemen, die uns durch versteckte Chips überwacht und alles in Echtzeit an die CCP übermittelt?
Denn während amerikanische Konzerne ganz offen und unverblümt unsere Daten nutzen, um passende Werbung auszuspielen und zum Kauf von Produkten anzuregen, zielt das chinesische System ganz leise und klug auf unsere Politik und Kultur ab. Während der amerikanische Markt vom Ego einzelner, vermögender Investoren, von Idealismus und Kapitalismus angetrieben wird, wird KI in China von den Zielen, Werten und Moralvorstellungen der CCP befeuert: Von Macht, Wirtschaft und Kontrolle. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich möchte Deutschland und Europa weder zum Spielball machtorientierter amerikanischer Milliardäre machen noch zur gläsernen Marionette eines kontroll-fixierten Autokraten. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem der chinesische Staat seine Technologie noch offensiver nach außen richtet und möchte hier einmal klar und deutlich äußern, was sich sonst kaum jemand auszusprechen traut: Verwendet keine Technologie aus China.
Denn damit geben wir einem totalitären Regime die Macht, uns theoretisch per Knopfdruck vom Netz zu nehmen und Unternehmen und Personen handlungsunfähig zu machen. Der chinesischen Regierung traue ich absolut zu, dass sie mit aller Brutalität zuschlagen und uns den Strom abdrehen würde, sollte es ihren Zwecken dienen. Was die deutschen und gesamteuropäischen Pläne hinsichtlich KI umso bedeutender macht.
Quelle: Wie China zur KI-Supermacht wurde – und was das Land damit vorhat – Capital.de